Detlev Schneider

Theaterabriss in Mönchengladbach

Die Stadt reisst ihr Stadttheater ab, das sie schon zehn Jahre nicht mehr benutzt, – damit sich dort Deutschlands grösste Shopping Mall ausbreiten kann. Was das über die Stadt sagt, scheint klar: Nichts Vorteilhaftes.
Ich will aber davon sprechen, was das für das Theater heissen kann. Um´s vorwegzunehmen : Vorteilhaftes, vielleicht.
Denn das deutsche Stadttheater ist vom Kunststandpunkt aus ein Hybrid. Mehr Kulturbetrieb als Kunstort. Das aufstrebende Bürgertum hatte das Potential des Theaters für seine Selbstrepräsentation erkannt, – vor und auf der Bühne und in den Foyers. Und jede Stadt, die sich´s leisten konnte, baute sich im 19. Jahrhundert ihr Stadttheater und meist mitten ins Stadtzentrum. Bis vor ein paar Jahrzehnten behauptete es dort den Mittelpunkt der städtischen Kulturgesellschaft. Das Theater war Anstalt für bürgerliche Selbstvergewisserung
und Bildung und später Institut kritisch-politischer Affektableitung. Und seit einigen Jahrzehnten wurde es schliesslich zum finanzpolitischen Problem. Denn die Mittelpunktsfunktion nimmt es eben heute nur noch in den kommunalen Kulturbudgets ein. Zum Leidwesen der Kämmerer und der selbsternannten Realpolitiker. Nun werden die Theater finanziell eingetrocknet und die ersten eben auch schon abgerissen.

Vor Jahren traf ich beim Spazierengehen Andrzej Wirth. Er ist der letzte Brecht- Schüler, war später lange Professor in New York und London, und dann gründete er das Institut für angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Giessen. Seitdem kommen von dort Leute, die das Theater ungefähr so sehr unter Druck bringen wie von der gegenüberliegenden Seite her die versiegenden Budgets. Die bekanntesten sind René Pollesch und Stefan Pucher, Helena Waldmann und RIMINI PROTOKOLL.
Also ich treffe Andrzej Wirth, im weissen Leinenanzug mit weinroter Fliege und Panamahut, gut gelaunt, gerade aus Venedig gekommen, wo er seinen 75. Geburtstag gefeiert hat und wir plaudern. Und dann sagt er: „Wissen Sie Detlev, das Theater begreift ja gar nicht, welche Chancen es hat, jetzt wo ihm die Zuschauer wegbleiben. Jetzt, wo es auf die nicht mehr ständig schielen muss, kann es endlich seine eigene Ästhetik entwickeln.“ Und wir kamen schnell überein, dass es dann auch seine paternalistische Haltung sein lassen kann, immer eine Interpretation für den Zuschauer zu liefern anstatt ihm die Sinngebung selbst zu überlassen, was Kunst ja eigentlich wesensmässig tut.
Das ist ja das strukturelle Problem des Theaters. Immer muss es, soll es, – weil es soviel Geld kriegt, – auch andere als ästhetische Zwecke verfolgen und auf die jeweils aktuellen Diskurse aufspringen, auf die sozialpädagogischen und die zivilgesellschaftlichen, muss post-
migrantische Hinter- und Untergründe beleuchten und sich überhaupt brisant-politisch geben.
Doch Kunst, – darstellende zumal, – wird nicht dadurch politisch, dass sie mit rhetorischem Furor die Konflikte bebildert, die wir in der politischen Wirklichkeit austragen müssen. Sie wird dabei nur affirmativ, wird zum Selbstbestätigungsritual für Gleichgesinnte, zum Schattenboxen. Damit aber wird sie im genaueren Sinne apolitisch.
Der Blick der Kunst ist nicht der forcierte, sondern der genaue, folglich oft der einzelne, der einsame gar. Immer jedenfalls der eigene.
„Die Kontemplation ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zur Welt, die ihn umgibt“, sagt Schiller.
„Die ästhetische Erfahrung zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr unüberschaubar viele Bestimmtheiten zusammenkommen,“ sagt Deleuze.
„Marthalers Kunst ist politisch, weil sie der Zeit den Stecker rauszieht“ , sagt Baumbauer, der grosse Intendant.

Die Malerei konnte sich auf ihr wirkliches Potential konzentrieren, als die Fotografie sie davon befreit hatte, das Reale abbilden zu müssen. Und die Fotografie konnte ihrerseits zur Kunst werden, als diese Aufgabe ihr der Film abnahm. Der Film wiederum wurde Kunst, als das Fernsehen die populären Abbildfunktionen an sich zog. Und womöglich erhalten die theatralen Künste diese Chance jetzt in schöner dialektischer Paradoxie just durch ihren gesellschaftlichen Bedeutungsverlust. Und der Preis dieser Chance ist dann eben, dass das Theaterhaus abgerissen wird.

Das Theater wird ortlos. „Ortlos“ jedoch ist, wir erinnern uns, die genaue Übersetzung des altgriechischen Wortes „Utopie“.
Das Theater kann sich jetzt neue Orte suchen, neue Formen und Formate erfinden und sich neuer Spielweisen und Medien bedienen für und mit einem neuen, anderen, vielleicht kleineren Publikum, das aber dann wegen der Kunst kommt. Und es kann auftauchen, wo es gar nicht erwartet wird.
Vielleicht schliesst ja der Oberbürgermeister seine Mall-Einweihungsfeier-Rede mit den Schlussversen von Fausts Zweitem Teil, wo bekanntlich das virtuelle Geld erfunden wird. Goethe reimt dort im hessischen Dialekt seiner Geburtsstadt, die sich damals gerade anschickte, Bankenmetropole zu werden :

Alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis,
das Unzulängliche,
hier wird’s Ereichnis.

Detlev Schneider ist Theater- und Kulturwissenschaftler, Kurator, Dramaturg, Autor mit vielzähligen Projekten und Publikationen zu Szenografie, Literatur, Musik und theatralen Grenzbereichen.